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Die Polypille - eine gegen fast alles?

2003 wurde das Prinzip der Polypille erstmals von britischen Forschern in der Öffentlichkeit vorgestellt. Diese enthält neben blutdrucksenkenden Wirkstoffen weitere Wirkstoffe wie Lipidsenker (Statine) und ASS. Nach Vorstellung der Forscher sollte die Polypille von allen Menschen ab 55 Jahren präventiv eingenommen werden. Unabhängig von bestehenden oder nicht bestehenden persönlichen kardiovaskulären Risikofaktoren soll sie das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen minimieren. 

Blutdruck-Medikamente
Dazu forschten sowohl US-amerikanische Forscher als auch Forscher im Iran. Gerade diese iranische Studie zeigte auf den ersten Blick beeindruckende Ergebnisse. Auch umschloss sie mit über 6.800 Menschen eine hohe Anzahl an Probanden. Deren Lebensalter lag zwischen 50 und 75 Jahren. Die Studie lief über den Zeitraum von fünf Jahren. Nur etwa ein Zehntel der Teilnehmer litt an einer diagnostizierten kardiovaskulären Erkrankung. 75 Prozent dieser Personen befanden sich deshalb bereits in Behandlung. Das Gros der Probanden wies also keine (zumindest keine diagnostizierte) kardiovaskuläre Erkrankung auf.

Die Probanden wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe erhielt die Polypille, die andere Gruppe nicht. Im Beobachtungszeitraum erlitten 301 von  3.417 der Kontrollgruppe, jedoch nur 202 von  3.421 Teilnehmern der Polypillen-Gruppe ein schweres kardiovaskuläres Ereignis. Als solches zählten ein Krankenhausaufenthalt bei akutem Koronarsyndrom, ein tödlicher Myokardinfarkt, ein plötzlicher Tod, eine Herzinsuffizienz, ein Koronararterien-Revaskularisationsverfahren sowie ein nicht-tödlicher und ein tödlicher Schlaganfall. Hiervon blieben demnach in der Probandengruppe, die die Polypille einnahm, 99 Menschen mehr verschont als in der Vergleichsgruppe.

Auch die kleinere, US-amerikanische Studie erbrachte ähnliche Ergebnisse. Die 303 Teilnehmer hier waren Geringverdiener und größtenteils nicht in der Lage, sich eine Krankenversicherung zu leisten. Für Arzneikosten et cetera müssen diese Menschen selbst aufkommen, da es in den USA keine gesetzliche Krankenversicherung gibt. Kein Teilnehmer wies eine kardiovaskuläre Erkrankung zum Studienbeginn auf. Auch hier wurden die Probanden in zwei Gruppen eingeteilt. Ein Teil erhielt eine Polypille, der andere Teil nicht. Der Beobachtungszeitraum der Studie betrug zwölf Monate. Die Therapietreue lag - ähnlich wie bei der iranischen Studie - bei über 80 Prozent.

Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. In der Versuchsgruppe konnte der mittlere systolische Blutdruck um 9 mmHg gesenkt werden und in der Vergleichsgruppe ohne Polypille sank er nur um 2 mmHg. Auch das LDL-Cholesterin sank in der Polypillen-Gruppe deutlich stärker. Hier stehen 15 mg/dl Senkung mit Polypille nur 4 mg/dl Senkung in der Vergleichsgruppe gegenüber. Der mittlere LDL-Cholesterinwert sank also um 11 mg/dl mehr in der Versuchsgruppe.

Ist die Polypille damit das heilbringende Medikament für alle?

Wie die beiden oben genannten Studien zeigen, kann eine präventiv verabreichte Pille mit mehreren Wirkstoffen in bestimmten Bevölkerungsschichten durchaus einen Nutzen bringen. In beiden Studien entstammten die Teilnehmer Bevölkerungsgruppen, die aus verschiedenen Gründen kaum Zugang zu ärztlicher beziehungsweise medizinischer Versorgung haben. Hier einen Effekt zu erzielen, ist also sehr viel wahrscheinlicher als in Gruppen, denen eine gute medizinische Versorgung zugänglich ist. In den Probandenguppen lag die Wahrscheinlichkeit, Menschen mit unerkanntem Bluthochdruck oder erhöhten Blutfettwerten zu erreichen, relativ hoch. Für die Gesunden in der Gruppe ist die Einnahme eines Blutdrucksenkers nicht so schlimm, da der Blutdruck hierdurch nur wenig absinkt. Kritischer wird diese „Schrotschusstherapie“ für die ebenfalls in der Polypille enthaltenen Statine und das ASS gesehen, da dieses das Blutungsrisiko erhöhen kann. Das wird - wie auch die unnötige Gabe von Statinen - als nicht ordentlich kalkulierbares Risiko gesehen.

Eine frühere Übersichtsstudie englischer und amerikanischer Mediziner zeigte, dass die Polypille nicht wirksamer sei als die entsprechenden Einzelpräparate. Zudem enthält sie eine fixe Dosierung der einzelnen Wirkstoffe und kann somit nicht so flexibel angepasst werden wie bei einer Gabe der Einzelwirkstoffe. Dies bezieht sich auf die gezielte Verordnung an Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren. Gesunde über 55-Jährige profitieren mehr von einem gesunden Lebensstil als von der eingangs genannten Idee, die Polypille präventiv an alle ab diesem Lebensalter auszugeben.

Polypille neu gedacht

2022 wurde das Konzept der bis dato wenig beachteten Polypille neu durchdacht. Eine Studie untersuchte die Wirkung einer Polypille die aus drei Wirkstoffen besteht, die nahezu jeder Patient nach einem durchgemachten Herzinfarkt als Dauermedikation erhält. Diese sind: ASS als Thrombozytenaggregationshemmer, ein ACE-Hemmer, hier Ramipril und das Statin Atorvastatin in jeweils mehreren Wirkstoffstärken, so dass sich 6 unterschiedlich starke Kombinationen in der jeweiligen Polypille ergaben.

Die verringerte Tablettenlast, also die geringere Anzahl an Tabletten die eingenommen werden müssen, bewirkte bei den Patienten der Beobachtungsgruppe eine deutlich verbesserte Adhärenz. Nach einem halben Jahr nahmen 70,6 % ihre Medikamente regelmäßig ein, in der Vergleichsgruppe, die statt einer Polypille die drei Komponenten als Einzelmedikamente erhielten, waren es dagegen nur noch 62,7 %. Nach zwei Jahren verbesserte sich die Tabletteneinnahme in beiden Gruppen leicht: in der Polypillengruppe nahmen 74,1 %, in der Kontrollgruppe 63,2 % der Patienten regelmäßig die verordneten Medikamente ein.

Nach etwa drei Jahren Nachbeobachtungszeit zeigte sich, dass die verbesserte Adhärenz auch Auswirkungen auf das Auftreten von Herzinfarkten, Schlaganfällen, dringend notwendigen Eingriffen um Verengungen in Gefäßen zu beseitigen, sowie Todesfälle aufgrund von Herz-Kreislauf-Erkrankungen hatte. In der Beobachtungsgruppe erlebten 9,5% der Teilnehmer ein derartiges Ereignis, während in der Kontrollgruppe 12,7 % davon betroffen waren. Besonders deutlich war ein Unterschied bei den Todesfällen zu sehen: In der Vergleichsgruppe starben in der Zeit 5,8 % der Teilnehmer, während in der Gruppe, die die Polypille erhielten, nur 3,9 % das Ende der Nachbeobachtungszeit nicht erlebten.

Da die Polypille keinen Anstieg von Nebenwirkungen und auch keine Sicherheitsrisiken zeigte, könnte sie ein probates Mittel zur sogenannten Sekundärprophylaxe nach einem durchgemachten Herzinfarkt sein.

Quellen:

Letzter Abruf der Quellen (soweit nicht anders angegeben): 18.04.2024

Von Sabine Croci. Dieser Artikel ist medizinisch-fachlich geprüft. Letzte Aktualisierung (04/2024).

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